Jeder stirbt für sich allein
Hans Fallada: Jeder stirbt für sich allein. Geschrieben nach den originalen Fallakten der Gestapo und des Volksgerichtshofs. Mich überrascht das Ausmass der Niedrigkeit und Gemeinheit in der deutschen Bevölkerung während der Jahre 1939-45. Wenn das alte Paar 1943 vor dem Volksgerichtshof steht, und der Pflichtverteidiger die härteste Bestrafung seiner Mandanten fordert, bleibt noch die Hofnung kommender Gerechtigkeit.
Von den 571 Richtern und Staatsanwälten des Volksgerichtshofs ist kein Einziger jemals angeklagt worden. Mit einer Ausnahme. Im Jahr 1965 ist ein Richter angeklagt und wegen Beihilfe zum Mord verurteilt worden. Der Bundesgerichtshof hat diese Entscheidung aufgehoben. Der Richter habe sich im Rahmen der Auslegung geltender Gesetze gehalten.
Der Bundesgerichtshof schrieb dazu im Jahr 1995, als es um die Verurteilung eines Richters der DDR wegen Rechtsbeugung ging:
„Der Senat verkennt nicht, daß Maßstäbe, wie sie in der Bundesrepublik bei der Beurteilung von NS-Justizunrecht angewandt worden sind, weit weniger streng waren. Die Erkenntnis, daß eine Todesstrafe nur dann als nicht rechtsbeugerisch anzusehen ist, wenn sie der Bestrafung schwersten Unrechts dienen sollte, hätte in einer Vielzahl von Fällen zur Verurteilung von Richtern und Staatsanwälten des nazionalsozialistischen Gewaltregimes führen müssen. Derartige Verurteilungen gibt es trotz tausendfachen Mißbrauchs der Todesstrafe, namentlich in den Jahren 1939-1945, nur in sehr geringer Zahl (vgl. Spendel, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung 1984 S. 17; Lamprecht NJW 1994, 562).“ (BGH Urteil vom 16.11.1995 – 5 StR 747/94).
Rechtsbeugung ist also nicht, den Nationalsozialismus durch Rechtsprechung zu verteidigen, sondern es dabei mit dem Fallbeil zu übertreiben.
Das Problem in Deutschland ist, dass viele Menschen nicht über eine originäre (autonome), sondern nur über eine abgeleitete Moral verfügen. Man kann das beobachten, wenn in Deutschland ein Fußgänger bei Rot über die Ampel geht und sich ein Fahrzeug nähert. In den meisten Fällen wird der Fahrer nicht abbremsen, sondern beschleunigen. Entscheidend ist nicht, ein Menschenleben zu schützen. Entscheidend ist, dass dieser Mensch sich mit der Überschreitung der herrschenden Regeln außerhalb der Moral gestellt hat und deshalb verletzt werden darf, vielleicht deshalb sogar verletzt werden muss. Die Kraft wird nicht verwendet auf eine Auseinandersetzung der eigenen Moral mit den herrschenden Regeln, sondern in die Durchsetzung der herrschenden Moral gegen den Dritten, der sie verletzt. Mit der Verteidigung der herrschenden Regel wird die daraus abgeleitete Moral, die fremde Sinnhaftigkeit verteidigt und die Frustration über diesen Zustand an dem dafür frei gegebenen Dritten ausgelebt.