Frankreich?
Die Republik Frankreich, welche seit Jahren die höchsten Geburtenraten in Europa aufweist, hatte im Jahr 2002 (Gesetz N°305 vom 4. März) im parteiübergreifenden Konsens die gemeinsame Sorge nicht verheirateter Eltern eingeführt. Sie entsteht entweder durch übereinstimmende Erklärung der Eltern oder wenn der Vater innerhalb eines Jahres nach der Geburt die Vaterschaft freiwillig anerkennt. Das Französische Justizministerium hatte dem deutschen Bundesministerium der Justiz im Mai 2004 Unterlagen zu diesem Gesetzgebungsverfahren und den beiden sie vorbereitenden rechtstatsächlichen Untersuchungen übergeben.
Anlässlich meines Termins zur beschränkten Akteneinsicht bei dem Bundesministerium der Justiz am 21. Januar 2010 habe ich gefragt, warum die Bundesregierung im Hinblick auf die möglichen Wirkungen einer Reform der elterlichen Sorge in Deutschland nicht auf die mittlerweile achtjährigen praktischen Erfahrungen Frankreichs nach der Reform des Jahres 2002 zurückgreift. Man antwortete mir in diesem Gespräch das sei eine gute Idee und bat in meiner Anwesenheit einen Mitarbeiter, diese Idee umzusetzen.
Das dürfte dem Bundesministerium der Justiz auch unproblematisch möglich sein, weil ein ständiger Vertreter des französischen Justizministeriums bei dem Bundesministerium der Justiz zur Verfügung steht, so wie umgekehrt ein deutscher Kontaktbeamter im französichen Justizministerium. Die gute Zusammenarbeit gerade in familienrechtlichen Fragen ist durch das jüngste deutsch-französische Abkommen über den Wahlgüterstand (2010) auch gut dokumentiert.
Mit Schreiben vom 14. Juli 2010 habe ich bei dem Bundesministerium der Justiz nachgefragt, zu welchem Ergebnis die am 21.01.2010 angekündigte Anfrage des Bundesministeriums der Justiz in Frankreich geführt hat, und bat, mir eine Kopie der Anfrage und der Antwort aus Frankreich zu überlassen.
Mit e-mail vom 26.07.2010 teilte mir das Bundesministerium der Justiz mit, man benötige noch etwas Zeit für die Antwort, weil es noch Rückfragen an das französische Justizministerium gebe.
Mit Schreiben vom 22.08.2010 bat ich dann um Auskunft bis zum 06.09.2010 und habe mit e-mail vom 07.09.2010 nachgefragt, ob noch mit einer Antwort zu rechnen sei.
Daraufhin wurde mir durch e-mail vom 08.09.2010 mitgeteilt, es läge noch keine Antwort aus Frankreich vor, ich würde aber in den nächsten Tagen gleichwohl eine Antwort erhalten.
Mit Schreiben vom 09.09.2010 habe ich diese Antwort erhalten. Anlage
In diesem Schreiben heißt es, man habe zur Rechtslage in Frankreich zwei Darstellungen ermittelt und beigefügt.
Diese beigefügten Darstellungen sind im Internet frei zugänglich.
Das ist zum einen der thematische Jahresreport 2008 des sogenannten Défenseur des Enfants: Rapport Thématique 2008 (Enfants au coeur des séparations parentales conflictuelles). Rapport
Der Anwalt der Kinder (Défenseur des Enfants) ist auf Beschluss des französischen Parlamentes durch Gesetz vom 06.03.2000 eingeführt worden, um die Interessen und Rechte der Kinder in der Politik zu wahren.
Das ist zum anderen ein Bericht des Abgeordneten Herrn M. Jean Leonetti aus dem Oktober 2009: „Intérêt de l’enfant, autorité parentale et droits des tiers“ rapport présenté par M. Jean Leonetti.
Dieser Report hat allerdings nur mittelbar mit dem Thema zu tun, insofern er auch einige statistische Angaben zur Familie in Frankreich enthält.
Die Kopie einer Anfrage des Bundesministeriums der Justiz bei dem französischen Justizministerium, oder einer Antwort auf eine solche Anfrage, habe ich nicht erhalten.
Das Bundesministerium der Justiz weist in seinem Schreiben mit Bezug auf diese Darstellungen aus Frankreich darauf hin, im Falle einer gerichtlichen Entscheidung über das Sorgerecht (nach einer Trennung) werde dort in 93 % der Fälle den Eltern das Sorgerecht gemeinsam zugesprochen (nach einer Ehe 98 %). Das bedeute, dass es insgesamt fast durchweg bei der einmal entstandenen gemeinsamen Sorge bleibe.
Das Bundesministerium der Justiz weist in seinem Schreiben darauf hin, dass man die verschiedenen Modelle im Ausland durchaus näher betrachte, aber angesichts der Vielzahl der möglichen Modelle mit den einzelnen Nuancen eine vollständige Untersuchung jedes theoretisch denkbaren Modells weder nötig noch möglich ist. Im Übrigen liege es in der Ressortverantwortung des federführenden Ministeriums zu entscheiden, auf welches der rechtlich in Betracht kommenden Parallelmodelle es sein Hauptaugenmerk richte. Weder der EGMR noch des Bundesverfassungsgericht hätten ein bestimmtes Regelungsmodell vorgegeben.
In jedem Fall gelte es, durch die Reform eine gemeinsame elterliche Sorge zu erreichen, wenn es dem Kindeswohl nicht widerspricht.
Ich selbst habe mit Schreiben vom 09.01.2010 das französische Justizministerium um Auskunft über die Erfahrungen Frankreichs nach der Einführung des gemeinsamen Sorgerechts gebeten. Nach weiteren Nachfragen hat das Ministerium schließlich mit Schreiben vom 22. Juli 2010 freundlich und diplomatisch geantwortet. Anlage
„Monsieur,
Sie haben um Auskunft von Frau Michèle Alliot-Marie, Staatsminister, Siegelbewahrer, Minister der Justiz und der Freiheiten, über die Auswirkungen der Reform vom 4. März 2002 über die elterliche Sorge gebeten.
Sie möchten insbesondere wissen, ob diese Reform Einfluß auf die Zahl der Anträge an die Familiengerichte gehabt hat und ob die erhofften Verbesserungen erreicht worden sind.
Aus statistischer Sicht ergibt sich, dass die Zahl der Anträge zu der Ausübung elterlicher Sorge, zur Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts minderjähriger Kinder oder zu Umgangsrecht und dem Recht der Beherbergung weiter angestiegen ist.
Gleichwohl kann dieser Anstieg nicht als eine gesteigerte Häufigkeit von Streitigkeiten zwischen nicht verheirateten Eltern und damit einem Scheitern des oben genannten Gesetzes verstanden werden. Vielmehr sind die Fortentwicklung der Gesellschaft und namentlich die bedeutende Ausweitung des Lebens der Paare außerhalb einer Ehe und die Zunahme früher Trennungen Ursachen für den Anstieg der Verfahrenszahlen.
Es erscheint mir wichtig zu unterstreichen, dass die Reform der elterlichen Autorität eine einvernehmliche Reform war und wohltuend für getrennte Paare mit Kindern. Beispielsweise sind die Herstellung der gemeinsamen Ausübung der elterlichen Sorge, die Betonung der Interessen des Kindes und die Präzisierung der Rolle des Richters solchermaßene Fortschritte, die das Ministerium nicht gedenkt in Frage zu stellen.
Mit freundlichen Grüßen,
Madame Ludivine Olive.“