Wahlfreiheit der Abgeordneten
In der Sitzung des Bundestages am 12.09.2024 haben die Abgeordneten des Bundestages mit 552 Nein-Stimmen von 645 abgegebenen Stimmen ein Mitglied der Fraktion der AfD nicht zum Vize-Präsidenten des Bundestages gewählt und ein Mitglied der Fraktion der AfD nicht zum Mitglied im parlamentarischen Kontrollgremium gemäß Art. 45d GG gewählt (amtliches Protokoll, Seite 6, ZP 7 und 8).
Es war nicht das erste Mal. Über 75 Jahre bestand die Vorstellung, das politische System der Bundesrepublik sei stabil, weil das Grundgesetz stabil konstruiert sei. Nun soll gelten, es gäbe keine Regelungen des Grundgesetzes, welche diese Stabilität sichern, sondern die beruhe in einem ungeschriebenen Konsens, der keiner Kontrolle durch die Verfassungsgerichte unterliegt. Die unter dem Schlagwort Resilienz vorgenommenen Änderungen an Geschäftsordnungen und Verfassungen wären demnach nicht auf Stabilität des Grundgesetzes, sondern Erhaltung dieses Konsens gerichtet, der sich von der rechtlichen Ordnung gelöst und als eigenständige geistige Ordnung etabliert hat.
Eine Schlussfolgerung daraus wäre, falls die AfD die (absolute) Mehrheit erhält, darf sie mit der rechtlichen Begründung und damit Einwilligung der anderen Parteien und der Richter des Bundesverfassungsgerichts und der Richter der Landes-Verfassungsgerichte jeder anderen Partei jeden Vorsitz in jedem Ausschuss und jeden Vize-Präsidenten des Bundestages und der Landtage und jedes Mitglied in einen Ausschuss nicht wählen (durch freie Nichtwahl verweigern) und durch freie Wahl zu jedem Zeitpunkt die Geschäftsordnung ändern (über eine Änderung abstimmen), um eine solche Wahl zu verhindern. Und das wäre keine Beeinträchtigung der Wahlfreiheit dieser anderen Abgeordneten und ihrer Wähler und ihrem Teil an der Ausübung der Staatsgewalt durch freie Wahl und gewählte Werkzeuge (Organe) sprich Vertreter in der Gesetzgebung. Ansonsten hätte das Gericht nicht die Wahlfreiheit der Abgeordneten gesichert, sondern den Konsens einer Gruppe von Parteien rechtlich verselbstständigt.
Der Unterschied bestünde also, es handelte sich dann um eine Partei mit der Mehrheit, statt einer Gruppe von Parteien.
In der Regel wird ein Gericht einen Fall nur so weit rechtlich beurteilen, wie es für die Entscheidung des Falles erforderlich ist. Es wird angenommen, die Entscheidungsbefugnis des Gerichts reiche nicht weiter und es würde damit auch die weitere Entwicklung des Rechts hemmen.
Im Falle eines Verfassungsgerichts kann dies aber nur eingeschränkt gelten, wie das Bundesverfassungsgericht selbst in Bezug auf die Auswirkungen seiner Entscheidungen erklärt und damit den persönlichen Kontakt seiner Richter mit der Regierung begründet.
Falls das Gericht also in Bezug auf den ungeschriebenen Konsens einen nicht der Kontrolle der Verfassungsgerichte unterliegenden Bereich der Wahlfreiheit der Abgeordneten annimmt, folgt die Frage, ob ein Verfassungsgericht über die daraus folgende Konsequenz nicht mit entscheiden müsste, auch eine einzelne Partei mit der entsprechenden Mehrheit (eine gegen alle, statt alle gegen eine) könnte dann diese Wahlfreiheit für sich in Anspruch nehmen, sofern das Gericht die Wahlfreiheit als Argument zur Begründung verwenden will. Man könnte also fragen, ob in diesem Fall nicht das Argument durch das Gericht vollständig ausgebildet werden muss, um es zur Begründung seiner Entscheidung verwenden zu können. Anders gesagt, dieses Argument nur trägt, falls es allgemein gültig ist, und diese allgemeine Gültigkeit daher festgestellt werden muss, sofern das Argument zur Begründung der Entscheidung eines Teiles (alle gegen eine) gültig sein soll (insoweit, wie für die Entscheidung der Konstellation einer Gruppe von Parteien erforderlich ist). Das Gericht also diese Schlussfolgerung ausdrücklich auch für den umgekehrten Fall rechtlich mit beurteilen müsste, um es in diesem Fall anwenden zu können.
Dieser Konsens aller Parteien wird formal (Gepflogenheit, Geschäftsordnung) in der rechtlichen Überprüfung jetzt aufgegeben, um ihn mittels des Konsens einiger Parteien in der freien Wahl unter Ausschluss einer Partei aufrecht erhalten zu können.
Nachstehend drei der dazu ergangenen Urteile.
Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18.09.2024 zur Geschäftsordnungsautonomie betreffend die Wahl eines Ausschussvorsitzenden (2 BvE 1/20), Rn. 87 f. Der Anspruch aller Abgeordneten auf formal gleiche Mitwirkung an sämtlichen Gegenständen der parlamentarischen Willensbildung, wie z. B. das grundsätzliche Recht eines fraktionslosen Abgeordneten auf Ausschussmitgliedschaft (BVerfGE 80/188) gelte nicht für Gremien und Funktionen, die lediglich organisatorischer Art sind. Nichts anderes ergebe sich aus dem Beschluss vom 22.03.2022 (BVErfGE 160, 411 = 2 BvE 9/20) bezüglich der Besetzung des Präsidiums des Bundestages (Rn. 97).
Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 22.03.2022 zum Vorbehalt der Wahl bei Stellung eines Vize-Präsidenten des Bundestages (2 BvE 9/20), Rn. 24 f.
Beschluss des Thüringer Verfassungsgerichtshof vom 27.09.2024 (VerfGH 36/24), Anträge der CDU Seite 7 f; Begründung Seite 15 f.
Die Begründung des Thüringer Verfassungsgerichtshof ist einfach, die Abgeordneten können mit Mehrheit über einen bereits in der vergangenen Legislaturperiode auf die Tagesordnung gesetzten Punkt entscheiden, wie sie auch mit Mehrheit diesen Punkt neu auf die Tagesordnung setzen könnten. Und sie können mit Mehrheit über eine Änderung der Geschäftsordnung beschließen. Bemerkenswert erscheint allerdings die Art und Weise, wie der Verfassungsgerichtshof die Geltung des Thüringer Geschäftsordnungsgesetz ins Leere laufen lässt, die seiner Begründung im Wege steht, nämlich mit dem Argument, dieses stehe im Rang unter der Verfassung und binde den neuen Landtag nicht, obwohl der Landtag der Gesetzgeber ist und dieses Gesetz erlassen hatte (Seite 20 unten f). Nämlich weil das Gesetz seinem Zweck nach einer Diskontinuität unterliege. Ein Gesetz seinem Zweck nach nicht bindend sein wolle, obwohl das Gericht zuvor im Text die fehlende Bindung der Gewohnheit als Anlass für die Schaffung des Gesetzes beschrieben hat. Das Verfassungsgericht begrenzt nachträglich die allgemeine Gültigkeit einer gesetzlichen Regelung.