1 BvR 1675/16
Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 18.07.2018 (1 BvR 1675/16 u. a) entschieden, der Rundfunkbeitrag verstosse nicht gegen das Grundgesetz. Urteil
Um die Begründung zu verstehen, die das Gericht für seine Entscheidung gewählt hat, muss man eine Regelung des Zivilprozessrechts kennen, die über § 173 VwGO in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren entsprechende Anwendung finden würde.
In § 173 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ist die entsprechende Anwendung der Zivilprozessordnung vorgesehen: „Soweit dieses Gesetz keine Bestimmungen über das Verfahren enthält, sind das Gerichtsverfassungsgesetz und die Zivilprozeßordnung einschließlich § 278 Absatz 5 und § 278a entsprechend anzuwenden, wenn die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Verfahrensarten dies nicht ausschließen„.
Das gilt auch für § 292 ZPO.
Der § 292 der Zivilprozessordnung (ZPO) lautet: „Stellt das Gesetz für das Vorhandensein einer Tatsache eine Vermutung auf, so ist der Beweis des Gegenteils zulässig, sofern nicht das Gesetz ein anderes vorschreibt. Dieser Beweis kann auch durch den Antrag auf Parteivernehmung nach § 445 geführt werden„.
Würde also der Rundfunkbeitrag materiell-rechtlich auf der Vermutung der Nutzung des damit finanzierten Angebotes beruhen, wäre prozessual in jedem Verfahren eines Rechtsmittels gegen die Verpflichtung zur Zahlung des Rundfunkbeitrags der Beweis des Gegenteils zulässig, wie den Richtern des Bundesverfassungsgerichtes wohl bewusst war (Rn. 92: „Dem ließe sich auch nicht dadurch abhelfen, dass die Beweislast für das Fehlen eines Empfangsgeräts dem Beitragspflichtigen auferlegt würde„).
Die Begründung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes muss also einerseits den Rundfunkbeitrag als zweckbezogene Abgabe definieren, um die Ermächtigungsgrundlage der Länder zu erhalten, und andererseits die Verpflichtung zur Leistung an die bloße Möglichkeit zur Nutzung knüpfen, um eine gesetzliche Vermutung zu vermeiden. Damit gerät die Begründung des Urteils in einen inneren Widerspruch.
Die Begründung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts beruht im Kern auf zwei Punkten. Die Verpflichtung zur Leistung des Rundfunkbeitrags ist keine Steuer, sondern eine Abgabe (Rn. 52 f). Und die Verpflichtung zur Leistung knüpft an die Möglichkeit der Nutzung an, enthalte also keine gesetzliche Vermutung der Nutzung (Rn. 81 f).
Mit der Anknüpfung an die schiere Möglichkeit der Nutzung wird wiederum die Qualifizierung als Abgabe in Frage gestellt.
„Dies grenzt an ein Paradoxon: Individueller Nutzen wird durch die Chance generiert, zu nutzen, was der Allgemeinheit nutzt“ (Kämmerer, NJW 2018, 3209, 3210).
Und die Zahlung der Abgabe steht dennoch in keinem direkten Verhältnis mehr zu dem Inhalt des Angebotes.
Man könnte weiter überlegen, ob in der Regelung des § 292 ZPO ein grundlegender Gedanke der Rechtsordnung um Ausdruck kommt, also fragen, inwieweit schon eine gesetzliche Vermutung überhaupt zulässig wäre. Zu Beginn damit kann der § 292 ZPO hypothetisch auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes angewendet werden. Alle gesetzlichen Vermutungen im Sinne des § 292 ZPO haben eine Sache gemeinsam. Aus der Feststellung einer Tatsache wird auf das Vorhandensein einer anderen Tatsache geschlossen (das ist also vielleicht die Idee einer zulässigen gesetzlichen Vermutung). Das gilt auch für die unwiderleglichen Vermutungen, die auf Grund eines bestimmten Verhaltens (oder Unterlassens) eine Tatsache folgern (z. B. die Begründung der örtlichen Zuständigkeit bei rügeloser Einlassung in der mündlichen Verhandlung gemäß § 39 ZPO oder die Vermutung der Einwilligung in eine Organspende bei fehlendem Widerspruch nach dem Plan der Bundesregierung).
Das bedeutet für die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes: als Tatsache wird die Möglichkeit der Nutzung festgestellt. Eine zulässige gesetzliche Vermutung könnte nun lauten, wenn die Möglichkeit der Nutzung besteht, wird auf die Nutzung geschlossen. Das tut das Urteil nun gerade nicht, sondern stellt fest, die Möglichkeit der Nutzung ist gleich der Nutzung. Wenn das so ist, bewirkt die Möglichkeit der Nutzung zwingend die Nutzung. Das wäre aber gleichbedeutend mit einem Benutzungszwang (der sich zudem aus der zwangsweisen Allokation der für Informationen zur Verfügung stehenden Mittel der privaten Haushalte ergibt), wenn nicht eine Norm fiktiv eine Wirklichkeit schaffen kann, wie ich es mir mal im Jahr 2012 gedacht habe. Rundfunkbeitrag
Für die Organspende würde diese Vorstellung des Bundesverfassungsgerichts bedeuten, die Berechtigung des Staates zur Entnahme von Organen aus dem Körper der Bürger folgt aus der Tatsache des Vorhandenseins solcher Organe in den Körpern der Bürger.
Dann hat der hirntote Bürger die Beweislast für die Erklärung seines Widerspruchs gegenüber dem Staat, der seine Organe entnehmen will, die seine Angehörigen erfüllen müssen.
Und ich sehe die Richter des Bundesverfassungsgerichts, wie sie einem Bürger erklären, er dürfe nicht dagegen klagen, denn er sei ja noch nicht hirntot.
Am 16.01.2020 wird das deutsche Abgeordnetenhaus (Bundestag) in zweiter und dritter Lesung zu Punkt 8 der Tagesordnung über den Gesetzentwurf darin namentlich genannter Abgeordneter entscheiden, in dessen Erläuterung es auf Seite 3 unter ‚Lösung‘ heißt: „Nach dem Gesetzentwurf gilt jede Person als Organ- oder Gewebespender, es sei denn, es liegt ein erklärter Widerspruch oder ein der Organ- oder Gewebeentnahme entgegenstehender Wille vor. Ist dies nicht der Fall, ist, anders als bei der bisherigen Entscheidungslösung, eine Organ- und Gewebeentnahme bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen zulässig„. BT-Drucks. 19/11096
Das deutet darauf hin, die demokratischen Parteien würden wieder, wie bei dem Sorgerecht nicht ehelicher Väter und dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz, zusammen mit den Parteimitgliedern im Bundesverfassungsgericht eine Verfahrensregelung mit materieller Wirkung schaffen, die nicht durch das Verfassungsgericht geprüft werden will (weil man zu Lebzeiten Widerspruch einlegen kann oder weil man noch nicht tot ist oder weil man, wenn man tot ist, nicht mehr da ist).
Dieser Vorgang zeigt ein Problem eines besonderen Verfassungsgericht, sofern man die beabsichtigte Regelung wie eine Enteignung des Körpers der Bürger durch den Staat betrachtet. Im Falle eines obersten Gerichtshofes müsste der Staat sich prozessual auf eine Ebene mit dem einzelnen Menschen begeben und seinen Anspruch auf dessen Körper begründen. Das ist schwer vorstellbar, einmal da Körper nicht verkehrsfähig sind, aber auch hinsichtlich der Rechtsperson Staat als Inhaber eines solchen Anspruchs, der sich wie im Frontispiz des Leviathan von Hobbes aus den Körpern der Bürger konstituiert. Falls man den Anspruch nicht als Körpersteuer oder Körperabgabe versteht, für den Vorteil, als lebender Körper an dem Staat teilgenommen haben zu dürfen, oder in dem Staat überhaupt leben zu dürfen. Denn wer nicht bereit ist, mit seinem Tod dem Staat (oder Jens Spahn und seinen Freunden) zu nützen, sollte dann in dem Staat schon nicht leben dürfen, sondern dort den bürgerlichen Tod sterben. Und so wird das besondere Verfassungsgericht nur fragen, ist es nützlich?